BLINDED BY THE LIGHT | UNVERBLÜMT

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Sou Boujloud: Profilbild
BLINDED BY THE LIGHT.

In dieser Woche startet der neue Film von KICK IT LIKE BECKHAM-Regisseurin Gurinder Chadha. Er trägt den Titel eines Songs von Bruce Springsteen. Keine Ahnung, wer das ist? Bestimmt doch, ein bisschen … aber so richtig hat wohl niemand einen Peil. Ist aber auch egal. Denn in BLINDED BY THE LIGHT geht es gar nicht darum, Bruce Springsteen zu feiern. Na ja, vielleicht doch. Aber das Schöne an Filmen ist ja, dass sie für jeden ganz persönlich und anders sein können. Und für mich ist dieser Film ein Sammelsurium an Gefühlen, gekämpften Schlachten, Niederlagen, Errungenschaften und Erkenntnissen, die ich einmal hatte und manchmal noch habe und eventuell haben werden könnte.

BLINDED BY THE LIGHT

Bevor ich mich nun ausgiebig über die in BLINDED BY THE LIGHT behandelte Thematik auslasse, hier ein kurzer Abriss, worum es überhaupt in diesem Film geht:
1987 in Luten, England. Javed (Viveik Kalra) ist ein britischer Teenager pakistanischer Abstammung hat nicht nur mit den typischen Problemen eines heranwachsenden Mannes zu kämpfen, sondern muss sich tagtäglich Rassismus von Außen und Bevormundung von Innen, also seiner Familie, aussetzen.
Seine Leidenschaft: Gedichte schreiben. In ihnen verarbeitet er den täglichen Wahnsinn dieser winzigen Stadt und die Ansichten seines konservativen Vaters (Kulvinder Ghir).
Als ihm ein Klassenkamerad (Aaron Phagura) Tapes von Bruce Springsteen schenkt, eröffnet sich Javed eine völlig neue Welt. Zum ersten Mal fühlt er sich verstanden. Bruce Springsteens Songs scheinen wie für unseren verzweifelten Protagonisten geschrieben. Plötzlich scheint alles erreichbar und der Zuschauer begleitet diesen jungen pakistanischen Engländer auf seiner Reise zur Selbstfindung. Es geht um Mut, Liebe, Angst und Erkenntnisse.

Das Drehbuch zum Film basiert auf Sarfraz Manzoors Memoiren GREETINGS FROM BURY PARK: RACE, RELIGION AND ROCK’N’ROLL.  Die Story wird begleitet von der Musik und den Liedtexten von Springsteen, der Regisseurin Chadha vor Drehbeginn seinen Segen gab.

Tja …

Das Leben als heranwachsender Mensch ist hart. Mit einem unaussprechlichen Namen noch härter. Und wenn man zusätzlich in einer Kultur aufwächst, die jenseits der eigenen vier Wände keine Relevanz zu haben scheint, dann …. ja, dann hast du nicht unbedingt die Arschkarte gezogen – auch, wenn du das in einem bestimmten Abschnitt deines jungen Lebens denkst. Du hast etwas anderes als ein ungewolltes Schicksal. Du hast einen Migrationshintergrund.

Das halten viele, ich nenne sie mal: Ur-Deutsche für eine Bereicherung. Wow, du kennst gleich zwei Kulturen. Und du sprichst also auch mehrere Sprachen? Und kannst du auch orientalisch kochen? Sprecht ihr zu Hause gemischt? Und gibt es Wörter, die du niemals ins Deutsche übersetzen könntest, weil es einfach kein Wort dafür gibt?
Ja.
Ja.
Oh ja.
Und nochmal ja.

Aber da ist etwas, das ich innerlich hinzufüge, wenn mir jemand all diese „Benefits“ meines Migrationshintergrunds aufzählt: …Und ich träume in zwei Welten. Und in meiner Brust schlagen zwei Herzen. Mein Wertesystem ist ein zweigliedriges. Manchmal widerspricht es sich selbst und irgendwie macht es doch alles Sinn. Und zwar in meiner eigenen Welt.

Vom Licht geblendet

Vor über 40 Jahren haben meine Eltern eine Entscheidung getroffen, die nicht nur ihr gemeinsames Leben, sondern die Schicksale mehrerer Menschen maßgeblich beeinflussten. Nämlich die ihrer Kinder, deren Freunde, Partner und Kindeskinder und so weiter. Das ist einem gar nicht so wirkich bewusst, oder? Machen wir es uns doch einmal bewusst: Als junger Matrose zog es meinen marokkanischen Vater ins „glorreiche“ Europa. Dort gab es Arbeit, eine Perspektive und womöglich eine bessere Zukunft als in seiner Heimat Marokko. Wenn ich mir meine Familie, die dort aufgewachsen ist, aber so anschaue, sehe ich vom Wohlstand her eigentlich keine gravierenden Unterschiede. Im Gegenteil: Unser Haus dort drüben ist eine Villa. Meine Onkel und Tanten besitzen (Acker)land und mehrere Häuser. Aber trotzdem sind wir „Europäer“ privilegierter.

Da fällt mir ein Witz ein, den mir meine Mutter vor einigen Jahren erzählte, nachdem ich mich darüber aufregt hatte, dass wir in Marokko immer die „Europäer“ genannt werden: „Ein junger Marokkaner begibt sich auf eine abenteurliche Reise nach Deutschland. Da er keine Einreisegenehmigung besitzt, wählt er den illegalen Weg und legt hunderte von Kilometern zu Fuß zurück. Er schmuggelt sich auf einen Lastwagen und fährt als blinder Passagier auf einem Schiff mit. Als er schließlich deutschen Boden betritt, bemerkt er einen 1.000-Deutsche-Mark-Schein vor seinen Füßen, den der Wind vorbeigeweht hat. Der junge Marokkaner schaut auf den Geldschein und sagt schließlich zu sich selbst: „Ach … ich bin gerade erst angekommen, soll ich jetzt schon anfangen zu sammeln?!“

So ziemlich genau könnte man diese Weltanschauung, welche dieser Witz impliziert, stehen lassen. Und nicht nur für Marokkaner, sondern stellvertretend für alle anderen Länder, die „weniger“ fortschrittlich sind als Deutschland. Oh Mann, ich bin echt froh, dass es dieses Land wurde. Auch, wenn ich womöglich nicht für immer bleiben werde. War auf jeden Fall eine gute Basis, zurückblickend. Meine Onkel setzten sich auf der Reise mit meinem Vater frühzeitig ab. Sie dachten sich wohl, dass das Nachbarland genauso schick sei, und ließen sich in den Niederlanden nieder. Unsere Familientreffen waren (und sind) also mega lustig, oder habt ihr noch nie versucht, in drei Sprachen mit euren Familienangehörigen zu sprechen? Außer meiner älteren Schwester kann so ziemlich keiner von meinen Geschwistern fließend Marokkanisch. Wir verstehen, aber die Zunge macht nicht mit. Also einfach nur das Nötigste sagen. Peinlich ist das jedes Mal. Deshalb denkt meine komplette Sippschaft, dass ich introvertiert sei. ICH! HAHAHAHAHAHA!!! Aber zurück zum Thema.

Die Entscheider hatten ja keine Ahnung

Mama kam mit keiner einzigen deutschen Vokabel in ihrem Wortschatz in dieses Land. Und zu allem Überfluss konnte sie weder lesen noch schreiben. Und um ALLES zu liquidieren, zog sie – natürlich – zu meinem Vater auf ein Schiff. Drei Jahre lang schipperten diese dunkeläugigen Turteltäubchen über die Flüsse Deutschlands. Und jetzt passt mal auf: Mama verließ das Schiff FLIESSEND Deutsch sprechend. Radio und TV sei dank. Kein Scherz, heute hört man keinen Akzent mehr. Was das Lesen und Schreiben angeht, hat sie auch das gelernt. Was Papa angeht … nun … man versteht ihn. 😉

Was meine Eltern allerdings auch erst entwickelten, war eine Angst, die sie auf ihre Kinder projizierten. Ich habe es lange nicht verstanden. Vor allem nicht, als meine Eltern schließlich länger in Deutschland lebten, als sie es in ihrer Heimat getan hatten. Die Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur. Plötzlich war Deutschsein nicht so gut.
Es gab eine Zeit, da hat unsere Mutter konsequent auf Marokkanisch mit uns gesprochen. Wir haben auf Deutsch geantwortet. Oder gemischt. Dann mischte sie wieder. Und letztes Jahr sah ich eine Instastory aus ihrem Urlaub, wie sie mit meinem Vater allein im Auto saß und durch Marokko fuhr. Nichts Besonderes. Aber: Sie unterhielten sich auf Deutsch! Dabei war doch niemand sonst dabei!
Diese Erkenntnis war für mich persönlich sehr bewegend. Und zwar in allen möglichen Richtungen. Vor kurzem fragte ich sie, in welcher Sprache sie denke. Teils, teils. Aber ihre Träume träumt sie mittlerweile auf Deutsch. Ich glaube, ich habe noch nie in einer anderen Sprache geträumt.

Der Struggle ist real

Protagonist Javeed, unser Stellvertreter aller Deutschen mit migrierten Eltern und diesen beiden pochenden Herzen, diesen doppeldenkenden Hirnen und Bäuchen, die zur gleichen Zeit Gegensätzliches fühlen können, erlebt für eben unsereins diese Achterbahnfahrt. Diese unzähligen Fragen nach unterschiedlichen Warums habe ich mir schon so oft gestellt.
Als Teenager hat man sowieso schon eine Identitätskrise. Und dann kommen noch Eltern hinzu, die auch schon mindestens eine Krise durchlebt haben. Nämlich die, als Einwanderer in einer völlig neuen Welt zurechtzukommen. Und nicht nur zurechtzukommen, sondern zu leben und zu lieben. Und sich plötzlich noch nie dagewesenen Fragen zu stellen und diese aus Versehen zu echten Problemen zu machen.
Ist euch (Migrantenkindern) schon einmal aufgefallen, dass eure Familien im Heimatland fortschrittlicher und moderner sind als eure eigenen Eltern? Meine Mutter kam mir manchmal mit Sachen um die Ecke, die selbst in Marokko altmodisch wären.
Ich denke, das lag daran, dass sie Angst hatte. Sie verließ ihre Heimat auf einem gewissen kulturellen Stand. Dieser hat sich in Marokko allerdings weiterentwickelt. Das konnte sie aber nicht miterleben, weil sie ja in Deutschland war. Und plötzlich war alles, was fortschrittlicher war, nicht gut. „Du bist zu deutsch“, habe ich oft gehört. Aber … was ist zu deutsch? Was ist marokkanisch? Wir trinken marokkanischen Tee, ich kann marokkanisch kochen. Aber ich wurde in Deutschland geboren. Meine Bildung ist deutsch, meine Freunde sind „deutsch“. Meine Gedanken sind frei, würde ich behaupten. Denn deutsch bedeutet für mich keine Bratwurst oder Lederhosen. Deutsch bedeutet für mich, dass ich in diesem, meinem Heimatland denken und fühlen kann, was ich nun einmal bin. Und genau das haben mir Mama und Papa beigebracht.
Manchmal frage ich mich, ob ich dieselbe Sou wäre, wenn ich in Marokko aufgewachsen wäre. Und ich denke: zu 99 Prozent wahrscheinlich schon. Mein Charakter hätte sich sicherlich nicht anders entwickelt. Meine Möglichkeiten allerdings wären eingeschränkter gewesen.
Ich habe es erst spät in vollem Umfang verstanden, aber es kostete meine Mutter viel, mich von zu Hause wegziehen zu lassen. 13 Jahre ist es schon her. Ich bin unverheiratet und absolut unabhängig. Zu Mamas Zeit in Marokko – undenkbar, denn:

Was sollen die Leute denken?

Dieser Satz hat bereits unzählige Träume zerstört. Aber mit meinen Geschwistern und mir sind meine Eltern gewachsen. Sie gaben uns mit, was wir brauchten, zeigten uns eine andere Welt, von der wir noch immer lernen. Und sie ermöglichten uns, unsere Leben selbst zu gestalten. Und genau das zeigt uns BLINDED BY THE LIGHT. Wir können alles sein, denn egal, wo wir sind: Die Wurzeln stecken tief und was man zu verstehen gelernt hat, fürchtet man nicht mehr.

Sou Boujloud

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1 Kommentar
  1. Hand Kommentar

    Für dies coming-of-age Geschichten habe ich eh eine Schwäche, egal in welcher Konstellation diese erzählt werden, sei es welche “Stadt der Diebe” sich vor dem Hintergrund der deutschen Belagerung von Leningrad entfaltet oder auch “Tschick”, der in der ostdeutschen Provinz spielt, Filme über das Erwachsen werden, üben auf mich immer eine ganz besondere Anziehung aus. Als ich dann gehört habe, dass der Hauptdarsteller in “Blinded by the Light” seine triste Jugend im England der Thatcher Ära nur dank Bruce Springsteen einigermaßen auf die Reihe bringt, war für mich klar, dass das ein “must see” für mich sein wird. Das Doppelalbum “The River” mit dem tollen Song-Booklet war die erste Schallplatte, damals noch Vinyl, die ich mir 1987 von meinem Taschengeld gekauft , das Cover, von dem “The Boss” so skeptisch blickt, kommt mir grade in Erinnerung, obwohl ich die Platte schon lange nicht mehr in den Händen hatte. Das Geld war gut investiertes Geld, der Return-on-Investment war sensationell und hat mich mehrere Jahre meiner Jugend fast täglich begleitet. Jetzt habe ich leider keinen Plattenspieler mehr, Musik ist nicht mehr physisch vorhanden, ab und an wird noch zu Geburtstagen o.ä. eine CD verschenkt, ansonsten wir ge”stream”t, schade, denn so wird Musik und kreatives Wirken von Künstlern leider auch zu einer Wegwerfware, die einmal kurz konsumiert, schnell in Vergessenheit gerät, aber das ist ist jetzt eine andere Geschichte. Ich denke, ich werde als guter Sohn, heute nachmittag mal meine Mutter besuchen, dort das Album aus dem Plattenschrank holen, es verstohlen nachdenklich betrachten und vielleicht den einen oder anderen Track hören, “Everybody’s got a hungry heart”

 

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