Harte Ziele – Hard Target Review | KINO TO GO

Der Tod von Wilford Brimley, das Nerdwriter-Action-Intensivierungs-Video und ein anstehender Podcast mit den Filmtoast-Leuten haben mich noch einmal nach New Orleans geführt. Zu HARTE ZIELE – HARD TARGET, der ersten Hollywoodstudio-Produktion unter Leitung eines asiatischen Regisseurs. Zur damals zehnten Adaption von THE MOST DANGEROUS GAME – mit den Muscles from Brussels, der Mumie mit etwas weniger Kajal, Kick-Ass-Angie, einem Piano spielenden Full Tilt-Bishop, Onkel Duvee (!) und der schulterlangen Soul-Glo-Nackentapete von Van Damme, die jeden Sprint oder Roundhouse-Kick zum geschmeidig wie glorios wallenden Erlebnis macht. Zu John Woos Antrittsgeschenk an das amerikanische Action-Kino.

Ein Film, wie er nur Anfang der 1990er rauskommen konnte – und dann auch nur von einem wie Woo. Einer, der Gewalt ästhetisiert, auf der Höhe seines Zeitlupen-Games war, sein Todesspiel mit Inhalten über kontrollverlierende Polizeistreitkräfte, Obdachlosigkeit, Raubtierkapitalismus und Wirtschaftsdepression anreichert, aber dann eben auch Ohrläppchen abschneidet, für den eingeölten Bizeps seines Hauptdarstellers eine Extra-Kamera abstellt, eine völlig verzichtbare Romanze einbaut, einen Schnapsschwarzbrenner zum galoppierenden Rentner-Rambo macht und Klapperschlangen mit der Faust bewusstlos boxen lässt. Soll heißen: ein Fest für Fans von Action, die gerne mal etwas weniger anspruchsvoll, aber deshalb umso ausgelassener sein darf. Oder eben ein Albtraum für jedes Studio.

Diesen Albtraum konnte ich jetzt erstmals in viel größerem Umfang erleben. Da 2020 mein ausgewiesenes Jahr der Wiederentdeckungen ist, habe ich nun nicht nur zum ersten Mal den Unrated Cut von HARTE ZIELE – HARD TARGET gesehen, den ich bislang nur in einer etwas kürzeren, weniger harten Version kannte. Ich erfuhr auch (shame on me) erstmals von dem 126-Minuten-Workprint ohne Musik und Effekte, wodurch ich schließlich in den Genuss der legendären Director’s Cut- oder Sneak-Preview-Version kam, die (inklusive Trailer nach Abspann) circa 120 Minuten lang und Woos erklärte Lieblingsversion ist. Und das. War. Großartig.

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Damit meine ich jetzt nicht die Story, das Overacting von Henriksen, Jean-Claudes Null-Acting oder seine Romanze mit Yancy Butler, die halt wirklich zu großen Teilen aus dem Film geschnitten wurde, ohne dass es einer ernsthaft bemerkt hat. Ich meine das Nachvollziehen des Prozesses. Wie so ein Film systematisch irgendwelchen Bedürfnissen, Zielgruppen oder blanken Ängsten angepasst wird. Das Auf- und Entdecken von entfernten Szenen, die vielleicht zu hart, zu sinnlos, zu schräg, zu unnötig, zu albern oder zu kitschig waren. Und das Abgleichen mit all diesen Anekdoten und Making-of-Stories, die sich über die Jahre angesammelt haben. Also zum Beispiel, dass Sam Raimi von Universal als Aufpasser engagiert wurde, um zur Not die Regie zu übernehmen, falls Woo nicht klarkommt. Eben, weil sein Star sehr oft telefoniert und daher ebenso oft zu spät zum Dreh erscheint. Oder eben verlangt, dass eine Kamera ausschließlich seine hart-glänzenden Oberarme einfängt.

Aber Woo kam klar. Und Sam Raimi wurde zum größten Fürsprecher und Rückenfreihalter des Chinesen. Nur konnte auch er nicht verhindern, dass Woo die Originalfassung des Films noch sieben (!) Mal umschneiden musste. Ich wiederhole: sie-ben Mal. Um von einem NC-17-Rating auf ein R-Rating zu kommen. Kurze Randnotiz: Das dauerte wohl so lange, dass Van Damme zwischenzeitlich mit einem eigenen Editor ins Schnittstudio ging und seine eigene Version anfertigte – um noch mehr Szenen und Close-ups von sich und seinem Astralkörper einzubauen. Schließlich würden die Leute ja auch für ihn bezahlen. Nun, das sehe ich anders. Trotz UNIVERSAL SOLDIER hatten MIT STÄHLERNER FAUST, OHNE AUSWEG und DOUBLE IMPACT schon eine gewisse Marschrichtung des belgischen Actionstars vorgegeben, so dass er bereits 1993 kein absolutes Zugpferd mehr für mich war.

Ganz im Gegensatz zu Grandmaster Woo. Von dem konnte ich schlichtweg nicht genug kriegen. Eben, weil ich damals viel zu oft einfach nicht genug von ihm bekam. Nahezu alle Filme des Taubenliebhabers habe ich beim ersten Mal nur geschnitten gesehen. Ob A BETTER TOMORROW, BULLET IN THE HEAD oder HARD BOILED. Selbst BLACKJACK. Die heilige Ausnahme: THE KILLER – aber das steht in einer anderen Review. Doch so sehr ich als junger Filmverrückter diese „Zensur“ skandalisiert habe, umso weniger war sie bei einem wie mir dann auch effektiv: Ich hatte mich trotz allem in Woos Werke verliebt. Ich machte mich eben aufgrund dieser Schnittpolitik auf die Jagd nach den vollständigen Fassungen. Und es war letztendlich wegen ihr so viel aufregender, diese Originalversionen zu entdecken. Egal, wie gut oder schlecht das Zusatzmaterial war.

Womit ich wieder beim Director’s Cut von HARTE ZIELE – HARD TARGET wäre. Es fühlte sich wie früher an, ihn zu sehen. Sich an das Bekannte zu erinnern. Sich am Neuen zu erfreuen. Und sich innerlich abzufeiern, wenn jetzt endlich die Szenen in voller Länge ablaufen, die man schon damals als so verdächtig und „geschnitten“ empfunden hatte. Allen voran die Ohrläppchen-Szene. Die musste einfach unvollständig sein. War sie natürlich auch. Es gibt ein paar Einstellungen mehr, die Schere, Schmerz und Fleisch einfangen. Das war schon vorher ein eigentlich unnötiger Profilverstärker für Henriksen und Vosloo, da wir zu diesem Zeitpunkt im Film schon längst gesehen und realisiert hatten, wie irre und skrupellos die beiden sind. In Anbetracht der von mir gesehenen Langfassung ist sie aber mehr Guilty Pleasure denn je.

Denn Woo musste neben dem Finale und der ungelenken „Liebesszene“ zwischen Chance und Nat vor allem den Anfang einkürzen. Also die Jagd auf Nats Vater. Die ist in ihrer Ursprungslänge nicht nur härter, sie zeigt vor allem schon direkt, mit wie viel Ressourcen und kalter Gier die Menschensafari aufgezogen wird. In Kombination mit der spurlos und komplett am Stück entfernten Nacht, in der JCVD und Butler ein erstes Mal Körpersäfte austauschen, teilt sich der Film nun später, aber auch ausgeglichener in zwei Hälften. Die erste ist mit ihrem Fokus auf die Spurensuche, den Einblicken in New Orleans’ Armut, verhältnismäßig wenigen Gewalttaten und fast 60 Minuten Länge mehr ein Großstadt-Thriller. Die zweite ist reine Action. Und ebenfalls fast 60 Minuten lang.

Ab dem Moment, in dem van Cleef das Hirn von Nuttenflyer-Vertriebler Poe durch dessen Windschutzscheibe schrotet, geht es eigentlich nur noch ab. Natürlich im altbekannten Langsam-schnell-langsam-Stil, aber eben auch mit deutlich mehr Einstellungen und Schergen, die Jean-Claude aus dem Weg räumt. Zum Beispiel gleich mehrere in einem Auto, bevor er mit einem Motorrad durch die Flammen einer anderen, brennenden Maschine hüpft. Ein Abschnitt, der mich ein wenig daran zweifeln ließ, ob Woo wirklich so glücklich mit diesem Cut ist. Denn nachdem er durch die Feuerwand geflogen ist, nimmt Van Damme einen weiteren Schurken auf die Gabel und rammt ihn in eine Wand aus Pappkartons. In der Unrated Fassung sieht das halbwegs stimmig aus, weil sie kurz nach dem Aufprall endet. Im Director’s Cut sieht man halt, wie der Belgier mit dem Bike nach rechts umkippt.

Ähnliches gilt für die Klapperschlangen-Szene. In der Sneak Preview dauert es deutlich länger, bis Chance das Reptil hinter Natashas Kopf hervorzieht – mit dem doch lächerlichen Effekt, dass sich dessen Zähne in ihrem Haar verfangen. Das ist zwar irgendwo charmant, wäre für mich als Filmemacher aber ein reiner Dorn im Auge. Apropos lächerlich: Ich finde Fouchons finales „Whoops“ im Unrated Cut schon etwas passender. Auch wenn die Variante der Langfassung dann doch etwas typischer für Woo ist. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich würde wetten, dass es Jean-Claudes Idee oder Wunsch war, noch mal mit blanker Hand in diesen brennenden Balken zu fassen, um zu zeigen wie hart er ist. Oder wie schön sein Bizeps im Feuer glänzen kann. Demnach schreibe ich auch den anschließenden Headbutt auf sein Konto. Aber beides passt zur kürzeren Version, die sich ingesamt etwas mehr nach Camp anfühlt. Für die längere wären diese Szenen schon wieder zu albern – so blöd das auch klingen mag.

Allein, weil der Showdown in seiner ursprünglichen Form so viel brachialer, brutaler oder zerstörerischer ist. Zugegeben: Von der Klasse seiner Hafen-Lagerhaus-Schlacht in HARD BOILED ist das immer noch eine sichtbare Karnevalswagenlänge entfernt. Dafür absolviert sein belgischer Held viel zu akkurate Salti und hechtet eben nur selten so dicht an Explosionen oder Feuer vorbei, wie es die chinesischen Kollegen früher taten. Aber alles in allem hat sich der Action-Poet hier doch deutlich stärker ausgetobt, als ich es jemals für möglich gehalten habe. Menschen, Pfeile, Kugeln, Granaten, Scherben oder Funken fliegen durch die Gegend, als hätte Woo Hongkong nie verlassen. Flankiert von diversen Nahaufnahmen, die Einschusslöcher oder spritzendes Blut einfangen. Gekrönt von Van Dammes Schwanenritt, der, wie so vieles, deutlich länger ist, viel mehr Kamerakranfahrten beinhaltet und somit viel eleganter und erhabener wirkt – in seiner Nonsens-Attitüde, dass der Belgier auf einem Plastikvogel in die Halle schwebt und sowohl Inventar als auch Personal mit nur einer Schrotflinte zusammenballert.

Nun mag es vielleicht richtig gewesen sein, das alles einzudampfen. Bei einem Budget von knapp 20 Millionen Dollar konnte HARTE ZIELE weltweit knapp 75 Millionen Dollar einspielen. Immerhin Platz 23 in den Boxoffice-Jahrescharts, wenn man bedenkt, dass der Film zum Start gegen Harrison Ford (AUF DER FLUCHT) und Bruce Willis (TÖDLICHE NÄHE) antreten musste. Das wird schon auch daran gelegen haben, dass er mit 96 Minuten „leichter“ zu konsumieren ist. Ich behaupte dennoch, dass gerade das Finale in seiner Gesamtheit viel mehr Eindruck hinterlassen hätte. Was gab es denn schon Vergleichbares aus Amerika im Jahr 1993? Nicht so wirklich viel. Und hätte Woo gedurft wie er konnte und wollte, hätte auch OPERATION: BROKEN ARROW nicht so ein „Umweg“ oder Kompromiss sein müssen. Eben, weil der ungeschnitte Showdown schon so viel von dieser berauschenden wie wegblasenden Action-Macht enthält, die später in FACE/OFF – IM KÖRPER DES FEINDES so viel besser, filigraner, lebendiger und typischer gezeigt werden sollte.

Aber gut, wäre dem so gewesen – um jetzt mal die volle Konjunktiv-Power auszukosten –, dann wäre ich halt auch nicht in den Genuss dieser Preview-Fassung gekommen, die das Testscreening-Publikum am Anfang noch per Texttafel um Diskretion bittet. Und um die Berücksichtigung der Tatsache, dass hier noch kein finaler Cut vorliegt. Also, dass noch Effekte fehlen und korrigiert werden müssen. Oder dass der Schnitt und der Score noch nicht final sind. Und das ist dann tatsächlich mein heimliches Highlight an der Version: Sie ist noch auf die legendäre wie so genannte „Temp Music“ oder „Temporary Music“ geschnitten. Sie besitzt also nur einen vorläufigen und noch keinen eigenen Soundtrack. Und dieser vorläufige besteht halt aus so vielen bekannten oder berühmten Stücken, dass ich mehrmals vor Freude laut auflachen musste.

So wird es unter anderem emotional zu Ennio Morricones „Death Theme“ aus THE UNTOUCHABLES – DIE UNBESTECHLICHEN. Daneben reitet Wilford Brimley – bei seinem wohl gloriosesten Moment im Film – zu den Klängen eines RAMBO-Themas von Jerry Goldsmith, während sein Schwarzbrennerschuppen im Hintergrund in tausend Teile zerberstet. Noch eine kurze Randnotiz: Durch die Preview wird erstmals klar, dass Van Cleef Onkel Duvees Schuppen mit einer Bazooka zerfetzt – in der regulären Fassung sieht es aus, als hätte der Cowboy das Teil mit seiner Schrotflinte zerlegt, was schon immer ein wenig schräg war. Doch zurück zur Musik: Am häufigsten erklingen allerdings Stücke aus dem ALIENS-Soundtrack von James Horner. Mal für gefühlvolle Momente, aber hauptsächlich, um Spannung aufzubauen oder die Action voranzutreiben. Am meisten während der Endschlacht.

Womit ich dann ebenfalls endlich mal am Ende bin und ganz simpel konkludiere: Es war eine Riesenfreude, diesen Film auf diese Art noch mal neu zu entdecken. Es wird nach wie vor nicht mein Lieblings-Woo, aber in seiner Art, mit seiner Härte und durch das Wissen, das ich neu gewonnen habe, nimmt er nun einen speziellen Platz im meiner persönlichen Rangliste ein. Bleibt nur noch die Hoffnung, dass der Master of Heroic Bloodshed zu einem Projekt findet, mit dem er seine alte Klasse nicht nur wiederbeleben, sondern dann auch nach Lust und Laune ausspielen kann. Ein hartes Ziel, ich weiß.

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HARTE ZIELE
Originaltitel: Hard Target
Genre: Action, Thriller
Darsteller: Jean-Claude Van Damme, Arnold Vosloo, Lance Henriksen, Yancy Butler, Wilford Brimley
Regie: John Woo
Kinostart: 23.12.1993
DVD-/Blu-ray-Release: 11.06.2020
Streambar: Kein Flatrate-Anbieter

 

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