Netflix, du hast mein Leben zerstört. Ich liebe dich! | UNVERBLÜMT

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Vor 13 Jahren habe ich mich vom Fernsehen verabschiedet. Zumindest vom Besitz eines technischen Endgeräts. Ich fühlte mich … desillusioniert. Zu wissen, wie der Hase läuft, war zwar cool, aber gleichzeitig raubte es mir diesen unschuldigen Blick, der alles so schön erlebbar gemacht hatte. So, wie zu wissen, welche kalorienbombigen Zutaten in einem Käsekuchen stecken. Keine Chance mehr. Da erkrankst du schon beim Gedanken an ein Stückchen auf der Gabel an Diabetes.

Der Fernseher blieb also bis heute weg. Aber dafür legte ich mir vor zwei Jahren eine sogenannte Unlimited Card fürs Kino an. Kinoflat. Mega gut. Seit drei Monaten zahle ich diese Flatrate allerdings wie einst meine teure Mitgliedschaft im Premium Sport & Spa (Hallo, Neptunbad in Köln) UMSONST. Der Grund? Diese widerlich wunderbare Bequemlichkeit namens Netflix. Bah. Geil. Bah! Ich kann mich nicht entscheiden!

Mein Leben vor Netflix

In meinem Leben bin ich 15 Mal umgezogen. Und 15 Mal sind es unzählige Kartons voller Bücher mit mir. Insgesamt besitze ich mehrere hundert. Jedes einzelne bedacht ausgewählt und lieben gelernt. Ich lese gerne. Mir gefällt am Bücherlesen die Haptik, dass ich zurückblättern und Lieblingsstellen markieren kann. Bücher, die ich gelesen habe, sehen auch so aus: Flecken und Knicke. Ob Kaffee, Erde, Make-up, Eselsohren … all so etwas. Ich bewahre Geschichten in meinen Regalen und auf dem Boden. Aufgebaut zu mehreren Wissens- und Inspirationstürmchen. Jeden Monat lese ich mindestens ein Buch. Meist zwei, wenn ich derart von einem gefesselt bin, dass ich es in jeder freien Sekunde wieder in die Hand nehme. Oder eher gesagt: nahm.

Bücher sind toll. Sie passen in die Tasche. Man kann sie überall lesen: im Café, in der U-Bahn, auf der Straße, Wiese, Klo, überall! Und dann gab es da noch Menschen. Freunde und Familie. „Gab“. Aber Netflix zwingt mich regelrecht, zu Hause zu bleiben. An kalten, usseligen Tagen ist das etwas Schönes, aber ehrlicherweise kann ich mich nicht wirklich daran  erinnern, wann ich im vergangenen Vierteljahr soziale Kontakte gepflegt habe.

Netflix: der Moment der Erkenntnis

Letzte Woche fiel mein Router aus, und so wurde mein Zuhause in die Steinzeit zurückversetzt. Diese sich in den vergangenen drei Monaten eingeschlichene Routine des Netflixens hatte nicht nur meine Sehgewohnheiten gestört, sondern auch dafür gesorgt, dass ich seit Ewigkeiten keine einzige Seite mehr umgeblättert hatte. Das war mir gar nicht bewusst gewesen. Diese Erkenntnis kam, als ich mich seufzend aufs Sofa warf und nicht wusste, was ich ohne Internet tun sollte. Mein Blick landete auf einem grünen Buchrücken im Regal. Ein Buch, das ich bei Seite 64 zur Seite gelegt hatte, um mein Netflix-Konto einzurichten.

Alter … was hatte ich getan? Ich sag es euch: Lebenszeit auf Netflix verloren. Na klar: Filme sind super, aber mittlerweile geht es fast nur noch um Quantität statt Qualität. Ich gucke einfach, ohne wirklich zu gucken. Ich lasse mich berieseln. Sobald ich nach Hause komme, klappe ich völlig automatisiert meinen Laptop auf und öffne Netflix. Dass ich teilweise Ewigkeiten damit verbringe, zu stöbern, sollte eigentlich schon als Warnzeichen verstanden werden.

20:15 Uhr

Ich vermisse die mit tausenden anderen Menschen geteilte Aufregung, zu einer bestimmten Zeit mit Freunden, der Familie oder alleine vor dem Fernseher zu sitzen. Mit Chips und Limo. In den Unterbrechungen rannte jeder zweite Zuschauer zur Toilette, und die Wasserwerke konnten ganz genau angeben, wann wohl eine Werbepause lief. Man musste sich nach dem Programm richten. Tatsächlich war das auch der Grund, weshalb ich mich nur schwer mit dem Gedanken an Video-on-Demand anfreunden konnte. Wollte ich denn, dass Fernsehen für mich jederzeit abrufbar ist? Und auch jetzt, während ich diese Zeilen tippe, merke ich, wie sich mein Gesicht skeptisch verzieht.

Bevor das neue Video-on-Demand-Zeitalter Einzug hielt, war bereits viel darüber gesprochen und spekuliert worden: „Das Fernsehen wird aussterben!“, „Bald wird sich das Fernsehen nach den Endverbrauchern richten und nicht umgekehrt!“ … und damals schon war meine Reaktion: „Ich weiß nicht, ob ich das gut finde.“ Denn ich mochte es, samstagabends mit Chips und Cola auf dem Sofa zu lümmeln und den Prime-Time-Spielfilm anzuschauen. Der ganze Tag wurde danach ausgerichtet. Alles wurde so erledigt, dass pünktlich um 20:15 Uhr nichts und niemand dem allwöchentlichen Höhepunkt in die Quere kommen konnte.

Früher war alles besser

Naja, nicht unbedingt alles. Aber wir gingen verantwortungsvoller mit dem Konsum von Medien um. Das war irgendwie qualitativ. Und bewusst. Bald wird sich niemand mehr daran erinnern, welche Bedeutung die Zahlen „20:15“ einst hatten. Und überhaupt: Ist der Begriff „Prime Time“ dem bitterlichen Vergessen geweiht? Werden meine Enkel wissen, was das Wort einst bedeutete? Ist das denn wichtig? Mir irgendwie schon.

Ich verhalte mich … komisch

Wenn ich Filme im Kino schaue oder doch mal etwas im Fernsehen, bemerke ich nach kurzen Momenten des Konzentrationsverlusts ein Zucken im rechten Zeigefinger. Warum zuckt mein Finger? WEIL ICH 15 SEKUNDEN ZURÜCKSPRINGEN WILL! Netflix vermittelt mir das Verständnis, dass ich jederzeit auf Pause klicken kann, wenn es mir gerade nicht passt. Ich habe das Gefühl, dass Video-on-Demand zu einer zunehmenden Verblödung beiträgt. Aber dieses Verständnis, dass sich alles um mich dreht, lässt sich nicht in die Realität übertragen. Das ist mir bewusst, aber meinem Zombie-Ich leider nicht.

Konsum, Konsum, Konsum

Es gibt sicherlich Menschen da draußen, die ein gesundes Verhältnis zu Netflix pflegen. Die haben Disziplin und einfach – ich sage mal – ihr Leben im Griff. Menschen wie ich allerdings stehen an der Schwelle zur existenziellen Zerstörung durch ihren Umgang mit Netflix. Es hat sicherlich Gründe, dass ich jemals weder Drogen genommen noch Alkohol getrunken habe. Ich weiß doch aus Teenager-Zeiten, dass mich jedes „Genussmedium“ zu einem pathologischen Problem führt: Auf meinem ersten Game Boy zockte ich TETRIS, SUPER MARIO und ZELDA in einem Atemzug durch. Ich habe ALLE Teile von FINAL FANTASY wie eine Psychopathin auf der PlayStation gespielt und kann mich nicht daran erinnern, in dieser Zeit freiwillig ins Tageslicht gegangen zu sein. Und so ergeht es mir gerade auch. Ich mache momentan lieber Netflix, anstatt im echten Leben zu socializen.

Diese enorme Masse an Filmen, die ich bis dato gestreamt habe, unterliegt einer beängstigenden Willkür. Selten geht es mir um den Film oder die Serie an sich. Zu Beginn erfolgte jeder Stream aus Interesse, mittlerweile ist es nur noch Gewohnheit. Mein Laptop liegt ständig neben mir in meinem Bett. Ich klappe ihn voll automatisiert auf und  konsumiere. Und das nicht einmal mit voller Aufmerksamkeit. Einfach ohne Sinn.

Netflix: die Hoffnung auf eine Lösung

Sommer. Sobald die Sonne draußen scheint, überkommt mich ein schlechtes Gewissen, und es zieht mich vor die Tür. Und ich hoffe, das wird baldigst passieren. Und dann, wenn es einen mental starken Moment gibt, werde ich Netflix kündigen und wieder hinaus in die echte Welt gehen. Mit einem echten Buch auf den Stufen des Bode-Museums am Monbijou-Theater in Berlin sitzen. Und wieder leben. Zumindest, bis es draußen wieder ungemütlich und kalt wird. Dann hast du mich wieder, Netflix. Denn ich liebe dich.

Das könnte dir auch gefallen

 

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.