Van Gogh: Tod, Erfolg und Endlichkeit | UNVERBLÜMT

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Sou Boujloud: Profilbild

Neulich im Späti: „Dieser Künstler … hier … Dingens … der mit den Sonnenblumen. Er hat sich doch das Ohr abgeschnitten!“ Da klingelt es bei so ziemlich jedem: Vincent Willem van Gogh. Ein, Zeit seines doch eher kurzen Lebens, unsagbar unglücklicher, paranoider Typ, der sich von seinem kleinen Bruder aushalten lassen musste. Er war Künstler. Nichts anderes konnte er – sagte er. Zumindest glaubt man das. Das Dumme: Vincent van Gogh hat von 900 Bildern nur ein einziges verkaufen können. (Übrigens an Anna Boch, die Impressionismus-Künstlerin und Tochter des Steingutfabrikanten Victor Boch von – ja, genau richtig! – Villeroy & Boch. Boom! Kleine Welt.)

Aber darum soll es heute nicht gehen. In VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT (AT ETERNITY’S GATE), dem am 18.4.19 erschienenen Maler-Biopic von Künstler und Filmemacher Julian Schnabel, blicken wir auf die Welt, wie sie Vincent van Gogh womöglich wahrnahm.

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VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT: kein gewöhnliches Biopic

Der Zuschauer soll keine Biografie, wie es sie schon zuhauf über van Gogh gibt, sehen, sondern die Welt aus der Perspektive dieses damals verkannten, großartigen Künstlers betrachten. Das versteht man relativ schnell, sobald der Film beginnt. Für den mittlerweile Steadicam- und Bildstabilisator-verwöhnten Zuschauer ein etwas ungewohntes und anstrengendes Unterfangen. Die Kameraarbeit wirkt, als hätte das Gerät ein unter ADHS leidendes Eigenleben entwickelt. Lässt man sich jedoch darauf ein, ist es wie bei der Seefahrt: Nicht entgegen arbeiten, dann funktioniert es, und man erkennt die Subjektivität und vor allem eine Dynamik, die sich in jenen Kamera-, Schnitt- sowie künstlerischen Arbeiten van Goghs wiederfinden lässt. Auch die Bildwelt ist eindrucksvoll: Farben und Gemütszustände unserer Hauptfigur stehen in Korrelation zueinander. Aber auch darum soll es heute nicht gehen.

Julian Schnabel mag nur Originale

Als ich erfuhr, ich dürfe ein Interview mit Julian Schnabel zu VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT machen, war ich außer mir vor Freude. Aus mehreren Gründen. Einerseits habe ich eine kleine „Verbindung“ zum Thema van Gogh. Diese begann in der siebten Klasse im Kunst-Informatik-Kurs. Da war mein Halbjahresprojekt eine Website über – natürlich – Vincent van Gogh. So lernte ich mit 13 Jahren also einiges über diesen Menschen, sein Leben und seine Kunst.

Außerdem entdeckte ich vor einigen Wochen die Ausstellung im Pariser Atelier des Lumières. Dort kann man sich sozusagen in van Goghs Werke begeben und sie „erfahren“. Es wirkt alles sehr eindrucksvoll. Allerdings kam ich noch nicht dazu, diese Ausstellung zu besuchen. Mein Vorschlag, einen Betriebsausflug nach Paris zu machen, stieß irgendwie nicht auf sonderlich große Aufmerksamkeit bei FredCarpets Chef …

Im Gespräch mit Julian Schnabel ging es auch kurz um dieses Thema und seine Haltung dazu. Das lief ungefähr so ab: „Did you hear about the van Gogh exhibition at Atelier de Lumières in Paris? What do you think about it?“ – „What? Nah … not my thing. Go see the paintings and not such pseudo artistic stuff. See the originals. NEXT!“ Und dann war das Interview vorbei. Haha.

VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT: Willem Dafoe hält jeder Kritik stand

Ein Blick ins Web zeigt, dass manche Kritiker VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT verreißen. Aber ich mag den Film, weil: er dieses Mal keine plumpe Wiedergabe einer Biografie darstellt, sondern versucht, das Innere van Goghs für den Betrachter sichtbar zu machen. Und: Selbst, wenn diese Darstellung des Inneren nicht stimmen sollte – die thematisierte Person kann uns schließlich nicht die Wahrheit sagen –, ist es dennoch ein eindrucksvoller Einblick in eine Welt, die wenige von uns kennen.

VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT gibt uns definitiv die Möglichkeit, einige der Emotionen und Gedanken van Goghs nachzuempfinden. Die herzzerreißende Tragik dieses armen, naiv-paranoiden, unsagbar einsamen und depressiven Menschen, der die Welt anders sieht, geht einfach nah. Willem Dafoe leistet eine außerordentlich gute Darbietung!

Van Gogh und Co: Brotlose Künstler

Worüber ich nach diesem Film aber am meisten nachgedacht habe, ist die Situation des brotlosen Künstlers und dieses widerlich unfaire „Gesetz“ darüber, dass die Großartigkeit eines Kreativschaffenden meist erst nach seinem Ableben gefeiert wird. Davor wird er als Person unterster Klasse behandelt. Nicht würdig, mit den Kanalisationsratten vom selben Laib Brot zu essen.

Wieso ist das so? Wieso müssen manche Menschen erst sterben, um gebührende Anerkennung zu erhalten? Zum Beispiel Israel Kamakawiwoʻole! Keine Ahnung? „Soooomewhere ooover the rainboooow …“ Armer Israel, ich hätte ihm gegönnt, seinen Erfolg zu erleben.

Der jüdische Society-Fotograf Erich Salomon wurde in Auschwitz ermordet. Seine Fotos erhielten wenig Beachtung. Heute sind Salomons Aufnahmen von zum Beispiel Marlene Dietrich weltberühmt. Zu sehen übrigens hier: Berlinische Galerie.

Ein anderes Beispiel ist Vivian Maier, deren Fotografietalent erst kurz nach ihrem Tod entdeckt wurde. Sie trat nie als professionelle Fotografin in der Öffentlichkeit auf. Ihre Werke mussten erst zufällig bei der Versteigerung ihrer Hinterlassenschaften entdeckt werden. Wie sie sich heute mit all dieser Anerkennung fühlen würde? Ich glaube ja, dass sie sich wegen der Gesellschaft nicht traute, ihr Talent und ihre Leidenschaft öffentlich zu zeigen.

Gesellschaftliche Scheinheiligkeit

Oder diese Auszeichnungen, die posthum erfolgen. Jüngst Aretha Franklin (BLUES BROTHERS). Sie war eine grandiose Frau und hat die Welt mit ihrer Musik definitiv geprägt. Darüber waren sich alle auch einig. Vor wenigen Tagen erhielt sie den Pulitzer Preis. Die Lady hat wirklich sehr lange durchgehalten (25.3.1942 – 16.8.2018). Aber diese Ehrung durfte sie leider nicht mehr erleben. Knapp verpasst?! Hätte sie diesen Preis auch erhalten, wenn sie nicht vor acht Monaten verstorben wäre? I doubt it … I doubt it.

Wieso gönnen wir den Menschen nicht, dass sie sich lebendig darüber freuen dürfen und nicht nur aus dem Jenseits heraus? Wieso diese … ich weiß nicht, ob ich es „gesellschaftliche Scheinheiligkeit“ nennen soll oder einfach nur „späte Einsicht“. Aber … wieso? WIESO???

Vielleicht hat Gott mich zu einem Maler für Menschen gemacht, die noch nicht geboren sind. (Vincent van Gogh)

Prügel statt Individualität

Vielleicht hatte van Gogh Recht damit. Vielleicht war er mit der Kunst, die er machte, seiner Zeit voraus. Vielleicht sind die Menschen aber einfach nur missgünstige Arschlöcher, die es denjenigen schwer machen, die sich trauen, unkonventionell zu sein. Die Gesellschaft schreit nach Individualität, während sie mit Baseball-Schlägern auf diejenigen einprügelt, die es wagen, ihrer echten Individualität Ausdruck zu verleihen.

Was anders ist, wird zunächst skeptisch, aber nur mit einem Auge – quasi aus dem Winkel heraus – beäugt, damit es keiner mitkriegt. Und dann ignoriert oder noch schlimmer: für schlecht erklärt. Je mehr Menschen das tun, desto allgemeingültiger diese Verhaltensweise. Und niemand hat eine Chance. Es sei denn, er ist innerlich stark genug, trotzdem sein Ding zu machen. Und diese Menschen, die es einem so unendlich schwer gemacht haben, sind dann meist die lautesten. Die, die erzählen, wie sie ihn kennengelernt haben, wenn der Künstler doch noch zu Ruhm erlangt ist.

Posthume Anerkennung

Kennt ihr die Antilopen Gang? Ich war in meinen 20ern mit einem der Mitglieder befreundet. Gute Musik haben die Jungs schon immer gemacht. Bekanntheit erlangten sie aber erst, nachdem sich dieser Freund das Leben genommen hatte. Das ist den hinterbliebenen Antilopen bewusst, und so hört man es auch in einem ihrer Songtexte.

Ich bin mir sicher, der Erfolg hätte Jakob gutgetan. Ob es seinen Suizidversuch verhindert hätte? Wahrscheinlich nicht. Aber er war außerordentlich talentiert und ein sehr toller, lustiger und lieber Mensch. Nach so vielen Jahren denke ich noch immer darüber nach, dass ich unserer Freundschaft nicht so viel Zeit geschenkt habe, wie sie es „verdient“ gehabt hätte.

Das Leben: keine Selbstverständlichkeit

Wir sehen die Menschen um uns herum als selbstverständlich an. Denken, alles könne aufgeschoben werden. Vergessen oder halten es nicht für notwendig, unsere Anerkennung auszusprechen oder zu zeigen. Wann befassen wir uns schon intensiv mit einer Person, ihrem Wesen und ihrem Schaffen?

Erst, wenn jemand nicht mehr da ist, machen wir uns Gedanken. Denken überwiegend an die positiven Dinge, die wir mit diesem Menschen verbinden. Schauen auf das nun verlorene Talent. Und manchmal führt dies zu einer Glorifizierung. Deshalb gibt es auch oft Drama nach einer Trennung.

Oder geht es bei Persönlichkeiten wie Vincent van Gogh nur um cleveres Marketing? Denn eigentlich hat es jeder verdient, zu Lebzeiten geehrt zu werden. Meine Gedanken kreisen also nicht nur um dieses Phänomen über verstorbene Künstler. Ich denke auch über die „Normalsterblichen“ um mich herum nach. Wir wissen doch alle, dass es ein Ende geben wird. Für alles und jeden.

Zeit zu handeln

Wir trauern um unsere Eltern, wenn sie tot sind, wollen aber nicht jede Sekunde mit ihnen verbringen. Stattdessen trauern wir hinterher über die verlorene gemeinsame Zeit. Wäre es dann nicht also ein guter Schritt in die richtige Richtung, wenn wir uns stets vor Augen führten, dass alles und jeder einmal nicht mehr da sein wird?

Führt es uns vielleicht dann dazu, unsere Leben und die Menschen um uns herum besser zu schätzen und bewusster wahrzunehmen? Oder ist es – wie van Goghs Schicksal es bestimmte – die Endlichkeit, die die Schwelle zur Ewigkeit bedeutet?

Sou Boujloud

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