Echt jetzt: Filme nach wahren Ereignissen werden immer mehr. Aber warum ist das so?

Unlängst habe ich einfach mal wieder quer durchs Gemüsebeet gezappt, in der stillen Hoffnung, auf irgendeinen Film zu stoßen, auf den ich wirklich Bock haben könnte. Das hat wie immer ziemlich lange gedauert, lang genug jedenfalls, um sich in einem Punkt bestätigt zu finden: Noch nie hat es so viele True Story-Filme gegeben, also Film-, TV- oder Serienstoffe, die von sich behaupten, auf wahren Ereignissen oder Begebenheiten zu beruhen.

Bei meiner Herum-Zapperei stieß ich nacheinander (dieser Bericht hier basiert übrigens auf einer wahren Begebenheit – ich schwör’s!) die folgenden „wahren“ Stories: THE PLAYLIST, eine Miniserie (6 Folgen bei Netflix) über die Geburtswehen des Musik-Streamers Spotify. In TED K (in Deutschland erhältlich als DVD & Blu-ray) kann man der verwirrenden Logik des sogenannten „Unabombers“ Ted Kaczynski folgen. Oder aber in FATHER STU (erhältlich als DVD & VoD) Mark Wahlberg als Boxer Stuart Long beim Wechseln seiner Arbeitskleidung zusehen – nämlich raus aus den Boxhosen und hinein in die Priester-Soutane, in der er dann zum Kämpfer für Gott mutiert. Und dann natürlich die Einblicke in die theatralische Isolation der britischen Royals (THE CROWN – 5 Staffeln bei Netflix sowie auf DVD & Blu-ray) und obendrein noch die unvermeidlichen Offenbarungen eines ihrer Nachkommen (HARRY & MEGHAN – 6 Folgen, ebenfalls bei Netflix). Einen Film über das Glamour-Power-Couple (mit dem wunderschönen, typisch deutschen Zusatz EINE KÖNIGLICHE ROMANZE) gibt es übrigens auch noch – mit Parisa Fitz-Henley als Meghan und Murray Fraser als Harry. Gibt’s in Deutschland meines Wissens nur als DVD, was aber auch nicht weiter schlimm ist. Denn das „königliche“ wäre ja sowie nicht „true“.

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Nun sind Geschichten über das Leben realer Menschen und zu tatsächlich historischen Ereignisse ja keine Erfindung der Kino-Neuzeit. Napoleon Bonaparte wurde schon zu Stummfilm-Zeiten reinkarniert und mal mit mehr, mal mit weniger Hinzu-Dichtung „porträtiert“. Elizabeth Taylor becircte als KLEOPATRA und Marlon Brando war federführend in die MEUTEREI AUF DER BOUNTY verwickelt. Oder die versammelte Maler-Garde: Charlton Heston als Michelangelo, Kirk Douglas als Vincent Van Gogh, Andy Garcia als Modigliani und zum Beispiel Anthony Hopkins als Picasso. Da waren historische Figuren wie Alexander der Große (z.B. Oliver Stones ALEXANDER mit Colin Farrell), Präsident Lincoln (z.B. LINCOLN von Steven Spielberg), Churchill (etwa DIE DUNKELSTE STUNDE mit Gary Oldman) oder General PATTON (- REBELL IN UNIFORM von 1970), dazu Weltkriegs-Schlachten von Midway über Pearl Harbor bis zu Iwo Jima und jede Menge (Massen-)Mörder, die von der Leinwand oder dem TV-Screen herab mitunter eine eigenartige „Faszination“ entwickeln.

Ein guter Film muss so sein wie die kürzeste Form des Entertainments: Der Witz.

That’s true: Das Bedürfnis, eine denkwürdige Vergangenheit festzuhalten, wieder zu erleben oder mit fremden Augen zu teilen, das gab es schon immer. Es begann damit, dass die ersten und frühen Menschen Jagdszenen in die Wände ihrer Höhlen ritzten. Dieser Drang, sich das, was einmal real war, neu vorzustellen, setzte sich dann auf den Leinwänden der Maler, in der Literatur, der Fotografie bis hin zu den großen und kleinen Bewegtbild-Projektionen von heute fort.

„Ein guter Film“, hat mir mal jemand erklärt, „muss so sein wie die kürzeste Form des Entertainments, nämlich der Witz. Handelt ein Joke von etwas Wahrem, etwas Realem, ist er wesentlich wirkungsvoller als alles Ausgedachte.“

Mag sein. Aber das erklärt nicht, was kürzlich auch die New York Times folgerte: „Noch nie zuvor waren Dramatisierungen bekannter Personen und Ereignisse so beliebt und weit verbreitet“. Aber warum das so ist, konnte noch keiner schlüssig erklären. Die tägliche Flut der Fake-News, bei denen niemand auf den ersten Blick zu unterscheiden vermag, ob sie nun wahr oder unwahr oder ein Mix aus Beidem sind – dieses sei der Grund, dass Faktisches und quasi „Verbürgtes“ so attraktiv ist. Sagen jedenfalls Manche. Ich weiß nicht recht. Hat COVID damit zu tun? Das Verlangen nach psychischer Nähe zu echten Menschen als Reaktion auf die physische Distanz zu Menschen? Hmmm… – schwer zu sagen. Oder ist das einfach nur zeitlicher Zufall und gar kein nachhaltiger Trend?

Die Globes als Gradmesser: Der Hunger nach True Story-Filmen ist riesengroß

Ich habe mir nochmal die Nominierungen für die 80. Golden Globe Awards im Januar 2023 vorgenommen. Und mir wurde sehr schnell klar, dass das kein Zufall sein kann. Es ist unübersehbar, wie außerordentlich geschätzt und ungemein attraktiv realitätsnahe Geschichten derzeit sind: Etwa die Hälfte der Film- und Fernsehtitel in allen Kategorien, einschließlich der Titel, die zu den Nominierungen für Filmemacher und Schauspieler führten, basierte auf einer wahren Geschichte oder einem wahren Ereignis oder waren davon inspiriert.

Die Hälfte!

Hier ein paar Belege – wie gesagt: Alles Kinofilme, TV-Filme oder -Serien, die 2023 bei den Golden Globes nominiert waren. Da ist allen voran DIE FABELMANS, Steven Spielbergs Rückreise in seine eigenen prägenden Jahre. Er enthüllt intime Erinnerungen und Momente des Staunens, der Traurigkeit und jugendlichen Ausgelassenheit mit einer so persönlichen Offenheit, dass man sich ernsthaft fragt, warum der Film nicht DIE SPIELBERGS heißt.

Das glamouröse und tragische Leben von Elvis Presley und Marilyn Monroe wurde in der Filmgeschichte ja immer wieder nacherzählt. Keine Ausnahme in diesem und letztem Jahr: Baz Luhrmann stellte Austin Butler als Rock’n Roll-Ikone ELVIS auf die Bühne; Netflix zeichnete mit BLOND und Ana de Armas ein rege diskutiertes aber hochinteressantes Bild von Marilyn Monroe.

Weitere prominente Persönlichkeiten sind Pamela Anderson (gespielt von Lily James) und Tommy Lee (gespielt von Sebastian Stan) in der Disney+-Miniserie PAM & TOMMY (erhältlich auch als DVD). Oder beim jetzt ja auch in Deutschland verfügbaren Paramount+ GEORGE & TAMMY – die Geschichte von Aufstieg und Fall des Country-Musikerpaares George Jones und Tammy Wynette (Michael Shannon, Jessica Chastain). Auch andere „Berühmtheiten“ lieferten den Stoff zu sehr erfolgreicher Fernsehproduktionen, wie Netflix‘ Dokuserie MONSTER: THE JEFFREY DAHMER STORY über den Serienmörder Jeffrey Dahmer – prominent besetzt unter anderem mit Evan Peters, Molly Ringwald, Richard Jenkins. Apropos „Doku“: Auch die Zunahme oder Nachfrage nach wirklich gut gemachten Dokumentationen, ob nun Film oder Serie, hängt meiner Meinung nach unmittelbar mit unserer – in Zeiten von oftmals verwirrenden Nachrichten und all dem Unseriösen in den sozialen Medien nachzuvollziehenden – Sehnsucht nach wahren, authentischen Geschichten zusammen.

„Based on the unthinkable true story“ steht auf dem Filmplakat zu THE GOOD NURSE. Jessica Chastain (Amy) und Eddie Redmayne (Charlie) spielen in der Netflix-Produktion eine Krankenpflegerin und einen Krankenpfleger. Kurz nachdem Charlie Amys neuer Kollege geworden ist, ereignen sich in der Klinik immer mehr Todesfälle. Der Thriller basiert – natürlich – auf wahren Begebenheiten und der Geschichte des Serienmörders Charles Cullen. Noch ein Beispiel: MORD IM AUFTRAG GOTTES (Disney+) ist die Serien-Adaption eines Buches von Jon Krakauer, der die realen Morde an Brenda Wright Lafferty und ihrer 15-monatigen Tochter Erica Lafferty im Umfeld der Mormonenkirche im Jahre 1984 untersuchte.

Based on a true story: Versprechen? Oder Rückversicherung?

THE INSPECTION (ab 24.8.2023 in den deutschen Kinos) erzählt die autobiografische Geschichte von Ellis French (Jeremy Pope), der als junger schwarzer schwuler Mann aus ärmlichen Verhältnissen den US-Marines beitreten will und gezwungen ist, seine sexuelle Orientierung zu verbergen. Geschrieben und inszeniert wurde THE INSPECTION von Elegance Bratton, der mit seinem Spielfilmdebüt zugleich seine eigene Geschichte verarbeitet. Ebenso wie Jeremy Pope war auch Viola Davis 2023 für ihre darstellerische Leistung nominiert: In THE WOMAN KING (erhältlich als DVD, Blu-ray & VoD; streambar bei WOW und Sky Go) spielt sie eine Anführerin und schließlich Mitregentin von Dahomey, einem westafrikanischen Königreich, das zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert existierte.

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Ein Drama der jüngeren Geschichte – SHE SAID (erhältlich als DVD, Blu-ray & VoD) mit Carey Mulligan und Zoe Kazan als Journalistinnen der New York Times – widmet sich der MeToo-Bewegung und dem Fall Harvey Weinstein. Und selbst der Gewinner in der Kategorie „Best Motion Picture – Non-English Language“ hat einen sehr realen und leider sehr wahren politischen Hintergrund, nämlich den scheinbar aussichtslosen Kampf einer Gruppe von Anwälten gegen eine blutige Militärdiktatur: ARGENTINIEN 1985 – NIE WIEDER (Prime Video).

„Das Unterhaltungsgenre des historischen Dramas blüht auf“, jubelte die New York Times, aber das gilt auch für Einschränkungen und rechtliche Falltüren „wahrer“ Geschichten, insbesondere wenn lebende Personen involviert sind. Vor etwaigem Schadensersatz schützt hier in Amerika das mächtige First Amendment, der 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, quasi der Garant für Redefreiheit und Pressefreiheit. Aber Hinweise wie „Basierend auf einer wahren Geschichte“ dienen auch als Absicherungen: Weil eine Story ja nur auf etwas Wahrem, etwas Realem „basiert“ und nicht vorgibt, etwas Wahres oder Reales zu darzustellen, gelten solche Disclaimer als zusätzlicher Schutz vor möglichen Klagen.

Das Netzwerk hinter einem der Nominierten in der vergangenen Award-Saison ging sogar noch einen Schritt weiter: In der von Shonda Rhimes produzierten Serie INVENTING ANNA (Netflix) beginnt jede Episode mit dem Credit: „Diese Geschichte ist völlig wahr. Bis auf die Teile, die völlig erfunden sind.“

Auch eine Form von Wahrheit.

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